Angeregt durch einen Artikel in der Jagdzeitschrift WILD & HUND, in dem darüber berichtet wird, dass der angeblich umweltfreundliche Stromlieferant Biogasanlage in seinen Gärresten ein für Wildtiere tödliches Bakterium verbirgt, begann ich die Recherchen zum Thema „Chronischen Botulismus“. Festzustellen ist zunächst, dass dieses Thema bereits seit Jahren kontrovers diskutiert wird, in den letzten Monaten jedoch verstärkt die Presse beherrscht. Es war Thema einiger Berichterstattungen im Fernsehen (ARD/ NDR/ WDR/ SWR) und bemüht aktuell sogar den Deutschen Bundestag (Kleine Anfrage/ Drucksache 17/6185) . Im Landkreis Rotenburg (Wümme) hingegen, mit seinen ca. 125 Biogasanlagen und seiner hohen Dichte an Mastställen und Milchviehbetrieben, scheint die Diskussion um den „Chronischen Botulismus“ bisher noch nicht angekommen zu sein.
Seit Jahren wird in wissenschaftlichen Populationen der „Chronische Botulismus“ als neues Krankheitsbild diskutiert. Das Krankheitsbild soll mit folgenden Symptomen einhergehen: Leistungsabfall, Verdauungsstörungen, gehäuft auftretende Labmagenverdrehungen, Pansenverfestigung, Abmagerung, Festliegen, Lähmungen, gehäuftes Auftreten von fieberhafter akuter Euterentzündung, Koordinationsverlust und nichtinfektiösen Klauen- und Gelenkerkrankungen. Es wird davon berichtet, dass in Milchviehbetrieben die Rinder an dieser Krankheit, dessen Ursachen bisher nicht geklärt sind, verenden. Selbst einige Tierärzte und Landwirte sollen inzwischen an „Chronischem Botulismus“ leiden. Es wird von bereits über 2000 betroffenen Betrieben in Deutschland gesprochen. Trotz einer Vielzahl von Botulismus-Fällen in Schleswig-Holsteins Kuhställen sieht das Niedersächsische Agrarministerium keine Gefahr für Kühe im eigenen Land. „Es gibt derzeit keine Anzeichen, dass Rinder in Niedersachsen überdurchschnittlich betroffen sind“, sagt eine Sprecherin des Ministeriums. „In den vergangenen Jahren hat sich die Zahl auf etwa 60 betroffene Höfe pro Jahr eingependelt“. Da die Krankheit jedoch nicht meldepflichtig sei, gebe es keine aktuellen Daten zu Erkrankungen in Niedersachsen. Aktuelle Zahlen für den Landkreis Rotenburg (Wümme) sind ebenfalls nicht verfügbar. Der Kreisveterinärs Dr. Wiedner erklärte auf Anfrage: „Viehbestände, die vom Chronischen Botulismus betroffen sind, sind dem Veterinäramt nicht bekannt (Keine Meldepflicht). Angesichts der sich stellenden wissenschaftlichen Fragen und der derzeit wenigen wissenschaftlichen Erkenntnisse, laufen nach seiner Aussage in Niedersachsen derzeit zwei Studien zum Thema Clostridien und Biogasanlagen („Abundanz und Vielfalt von Clostridien in landwirtschaftlichen Biogasanlagen unter besonderer Berücksichtigung von Cl. botulinum“, Uni Göttingen, Laufzeit 2011-14 und „Risikopotenzial von Biogasanlagen für Wachstum und Toxinbildung von Cl. botulinum“, Tierärztliche Hochschule Hannover, Laufzeit 2011-12)“.
Verantwortlich gemacht für die Todesfälle bei den Rindern wird von den Wissenschaftlern um die Professoren Dr. Böhnel (Uni Göttingen), Dr. Dressler (Medizinische Hochschule Hannover) und Dr. Krüger (Uni Leipzig), die sich mit einer „Göttinger Erklärung“ zu Wort gemeldet haben, das Bakterium Clostridium botulinum. Nach der These dieser Wissenschaftler hat dieses Gift produzierende Bakterium den Darmtrakt der Rinder besiedelt und sie so schleichend – über einen Zeitraum von mehreren Jahren - vergiftet. Um diese Diagnose – „Chronischer Botulismus“ – wogt nun der Streit. Der klassische Botulismus verläuft nämlich akut: Er führt in wenigen Stunden zum Tod, ausgelöst durch die Bakteriengifte, die Botulinumtoxine.
Die Gegner der Göttinger Erklärung zweifeln daher die These vom „Chronischen Botulismus“ an. Im September 2010 wurde dazu ein Sachverständigengespräch am Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) durchgeführt, um den aktuellen Wissensstand zu diesem Thema zusammenzustellen. Teilnehmer waren Vertreterinnen und Vertreter der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA), des Friedrich-Loeffler-Instituts (FLI), des Max Rubner-Instituts (MRI), des Robert Koch-Instituts (RKI), des Umweltbundesamtes (UBA) und des Bundesinstituts für Risikobewertung (BfR). Die Teilnehmer des Sachverständigengesprächs kamen zu dem Ergebnis, dass die chronische Erkrankung in den Tierbeständen hinsichtlich ihrer Ursachen unklar bleibt, und viele der kursierenden Thesen wissenschaftlich nicht zu belegen sind. Es wurde eine Pilotstudie zum Nachweis von Clostridium botulinum und seinen Toxinen in gesunden Beständen und solchen mit chronischem Krankheitsbild vorgeschlagen, wobei sowohl gesunde als auch erkrankte Tiere untersucht werden sollten.
Das Bundeslandwirtschaftsministerium schreibt in seiner Antwort auf die Kleine Anfrage im Bundestag (Drucksache 17/6542), beim chronischen Botulismus handele es sich lediglich um eine „Hypothese zur Erklärung eines unspezifischen Krankheitsbildes. Die Vermutung, dass das in der Umwelt überall vorkommende Bakterium C. botulinum von Rindern mit dem Futter aufgenommen wird, sich im Darm dieser Tiere vermehrt und dort Toxin freisetzt oder dass es sich um eine Faktorenerkrankung handeln könnte, kann nicht als ursächlicher Beweis für das beschriebene Krankheitsbild herangezogen werden“. Zur abschließenden Beurteilung seien weitere Studien und wissenschaftliche Untersuchungen erforderlich.
Die Betroffenen Landwirte haben sich inzwischen zu der „IG Botulismus“ zusammengeschlossen, die fordert, dass der Chronische Botulismus als Tierseuche anerkannt wird. Darüber hinaus fordert die IG die Einrichtung eines Entschädigungsfonds durch Bund und Länder sowie die Aufnahme von Chronischen Botulismus in die Liste anzeigepflichtiger Tierseuchen.
Auch der Bundesverband Deutscher Milchviehhalter e.V. (BDM) fordert inzwischen, dass alle nur möglichen Anstrengungen unternommen werden müssen, um eine schnellstmögliche Klärung der Krankheitsursachen herbeizuführen. „Es ist niemandem geholfen, wenn Horrorszenarien aufgebaut werden. Aber es wäre verantwortungslos, diese Entwicklung auf die leichte Schulter zu nehmen oder gar zu ignorieren“, erklärt Kirsten Wosnitza vom BDM-Landesteam Schleswig-Holstein. „Die Auswirkungen auf die Tiere und die Belastungen der Betriebsleiter und Familien durch das Krankheitsgeschehen im Stall sind zum Teil enorm“.
Selbst der Fachverband Biogas empfiehlt seinen Mitgliedern inzwischen, bei Bedenken an der Sicherheit der Anlage, zur eigenen Absicherung, die Gärprodukte seiner Biogasanlage auf das Vorhandensein pathogener Clostridien untersuchen zu lassen. Eine gesetzliche Pflicht zur Untersuchung gibt es bisher nicht.
Beim Bakterium Clostridium botulinum handelt es sich um einen sog. „Anaerobier“, d.h. es wächst nur in einer sauerstofffreien Atmosphäre. Aber genau diese Atmosphäre herrscht im Fermenter der Biogasanlage. Hier wird in bestimmten Anlagentypen ein Gemisch aus Energiepflanzen, wie z.B. Maissilage oder Grünroggen, bei anderen Anlagentypen Energiepflanzen, Eigen- und Fremdgülle (Rinder-/Schweinegülle und Hühnermist), bei einem dritten Anlagentyp zusätzlich Material der Kategorie 3 (Lebensmittel, die nicht mehr zum menschlichen Verzehr verwandt werden, Schlachtabfälle, etc.) unter Sauerstoffausschluss bei einer Temperatur von 35°C – 38°C vergoren. Dabei wird das gewünschte Methan produziert. Gerade diese Bedingungen bilden nach der Auffassung der Unterzeichner der Göttinger Erklärung einen geeigneten Nährboden für das Bakterium. Bei den Biogasanlagen in die Material der Kategorie 3 eingebracht wird, ist eine Hygienisierung des Materials für 60 Minuten bei einer Mindesttemperatur von 70°C vorgeschrieben, da von diesen Anlagen nach Auffassung des Niedersächsischen Landesamtes für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (LAVES) ansonsten ein erhebliches seuchenhygienisches Risiko ausgeht. Von den etwa 200 Mio. t Gülle und Festmist aus der Tierhaltung, die jährlich in Deutschland anfallen, werden derzeit etwa 15 bis 20 Prozent in Biogasanlagen vergoren.
Das Cl. botulinum bildet hitzebeständige Sporen aus, die erst bei Temperaturen über 100°C abgetötet werden können. Es wird bei dem Hygienisierungsprozeß nach Auffassung der Unterzeichner nicht deaktiviert, sondern die versporten Clostridien erhalten sogar noch den Reiz zum Auskeimen, so dass die Gärreste zum erheblichen Teil mit Clostridien kontaminiert sind.
Dass diese Problematik auch im Landwirtschaftsministerium in Niedersachsen nicht ganz unbekannt ist, zeigt ein Blick in einen inzwischen ungültigen Leitfaden für Zulassung und Überwachung von Biogasanlagen für die Veterinärverwaltung aus dem Oktober 2004. Hier heißt es auf Seite 10: „Ohne eine Pasteurisierung wird die zuständige Überwachungsbehörde den in Anhang VI Kap. II Nr. C 14 geforderten Ausschluss eines „Risikos der Ausbreitung einer schweren übertragbaren Krankheit“ in der Regel nicht annehmen können; daher verbietet sich aufgrund der bekannten Clostridienproblematik auch grundsätzlich eine Ausnahme bei Hühnergülle, z. B. Hühnertrockenkot (s. Rd.Erl. des ML vom 29.08.2003)“.
Unstrittig ist, dass die Sporen des Cl. botulinum in der Umwelt ohnehin weit verbreitet sind. Die Bakterien sind äußerst widerstandsfähig gegen Hitze, Frost und Austrocknung, im Boden können sie Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte überdauern. Unter anaeroben Bedingungen keimen sie erneut aus und setzen das gefährliche Gift Botulinumtoxin frei. Stimmt die These der Unterzeichner der Göttinger Erklärung, würde durch das Ausbringen von kontaminierten Gärresten auf Grünfutterflächen und Äckern das Bakterium im Boden und an den Pflanzenteilen angereichert werden. Das BfR erklärt hierzu: „Daten über das Vorkommen von Clostridien auf landwirtschaftlichen Nutzflächen aus der Vergangenheit (vor Einsatz der Biogasgewinnung) liegen nicht vor. Es ist jedoch davon auszugehen, dass tendenziell in landwirtschaftlich stärker genutzten Gebieten eine höhere Belastung der Böden mit Clostridien vorliegt“.
Der meist zu Silage verarbeitete Grünschnitt könnte entweder direkt durch an den Gräsern haftende Bakterien (Biofilm), durch Einbringen von Bodenbestandteilen oder zermähten Wildbestandteilen in das Siliergut mit den Clostridien kontaminiert sein und gelangt so in das Tierfutter. Es gibt allerdings einen weiteren, bereits bekannten Infektionsweg. So werden beispielsweise beim Schnitt von Grünroggen im Frühjahr sehr oft Jungwild oder Gelege, beim Häckseln vom Mais im Herbst mitunter sogar Rehwild und Schwarzwild mitgehäckselt und gelangen – häufig auch unbemerkt - auf diesem Weg in das Gärsubstrat. Bei den üblichen Gärtemperaturen kann es dann zu einer rasanten Vermehrung der Verwesungsbakterien und der Entstehung von Botulinumsporen kommen.
Träfe die These der Unterzeichner zu, entstände durch das Ausbringen der Gärreste ein Kreislauf zwischen Stall, Biogasanlage und Acker, der zwangsläufig eine Akkumulation des Bakteriums zur Folge hätte. Die Jägerschaft ist besorgt über diese mögliche Entwicklung, da die Feldflur auch das Nahrungsreservoir unzähliger Wildtierarten darstellt. Sie wären dann ebenso betroffen, wie einige der im landwirtschaftlichen Betrieb gehaltenen Nutztiere, die zur Nahrungskette des Menschen gehören.
Ob die These vom Chronischen Botulismus, mit den dann unabsehbaren Folgen für unsere Kulturlandschaft erhärtet werden kann, werden die Ergebnisse der beiden wissenschaftlichen Studien in einem oder zwei Jahren zeigen. Das es allerdings bis dahin zu keinen Moratorium bei der Bewilligung neuer Biogasanlagen und dem Einbringen von Risikomaterial in bestehende Anlagen kommt, hängt wohl mit dem Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) und der politisch gewollten grünen Energie zusammen.